Welt bereisen Das Reiseblog des Ökumenischen Heiligenlexikons

Gewöhnung

   J. Schäfer          

Freitag, 27. März, bis Mittwoch, 1. April

Dorothea Siems, das neoliberale Plappermaul von der WELT, in allen Talkshows sitzend und viel Nichts sagend, hält die anstehende Rentenerhöhung für in dieser Krise nicht machbar. Überhaupt müsse man - ich ergänze: frau, aber natürlich nur die Kleingeschriebenen! - jetzt den Gürtel enger schnallen. So wie Adidas: der Sportartikel-Hersteller hat auf das Ausnahme-Gesetz zurückgegriffen und die Mietzahlungen für seine Geschäfte eingestellt. Schließlich braucht der Konzern das Geld für den jetzt durchzuführenden Aktienrückkauf in Höhe von 1 Milliarde €.

Jemand hat mir geschrieben, das Fliegen verbieten, eine solche Einschränkung von Freiheit, das ginge ja gar nicht. Stimmt: Millionen Menschen wären in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Aber jetzt sind es Milliarden, die in Isolation sitzen - von den Toten mal abgesehen. Freiheit für Millionen auf Kosten der Freiheit von Milliarden - das geht? Aber nur ruhig, lieber Leser: es wird so nicht kommen.

Gelesen habe ich, was die Leute hamstern: Deutsche Klopapier, Franzosen Wein. Genau das macht den Unterschied! Und in England hat Boris Johnson, der noch vor acht Tagen keinerlei Maßnahmen ergreifen wollte, weil das der Wirtschaft schadet, jetzt der Virus befallen. Mich freut das nicht, denn klammheimliche Freude ist in Deutschland seit 40 Jahren verboten.


Anfang der Woche habe ich spaßeshalber auf die Fähren-Seite geschaut. Siehe da: am 5. April fährt ein Schiff nach Palermo. Aber man braucht dazu eine Genehmigung der sizilianischen Bezirksregierung, das online-Formular ist verlinkt. Das habe gezögert, aber am Freitag Vormittag dann den Antrag per Mail abgesandt. Keine 24 Stunden später - abgesandt Samstag, 6.11 Uhr (!) - kam die Antwort. So sind sie, die italienischen Faulenzer. Vergangenen Sonntag hatte ich mich - nach vielen Klicks auf der richtigen Seite gelandet - bei der deutschen Botschaft auf der Rettungsflieger-Liste eingetragen - wohl wissend, dass es vorletzten Freitag die letzten Flüge waren, aber einfach nur so, zur Sicherheit. Bis heute: keine Reaktion. So ist das mit der deutschen Gründlichkeit und Zuverlässigkeit.
Ich habe diese grundlose deutsche Überheblichkeit und Missachtung der anderen so satt!!
Die italienische Antwort: erstens fährt kein Schiff, zweitens ist Heimreise kein Grund, drittens darf ich deshalb auch nicht über den Stretto - die Meerenge von Messina aufs Festland -, viertens gilt das Verbot von Fahrten über Land in ganz Italien; aber ich könne beim Innenministerium in Rom anfragen, Mail-Adresse anbei.
Also stelle ich mich darauf ein, Ostern und den April in Tunesien zu verbringen - und der Gedanke lässt mich erstaunlicherweise gelassen sein. Das Wetter muss ja irgendwann besser werden, es kann doch nicht länger angehen, dass es in Stuttgart besser ist als 300 km vor der Sahara. Vorgenommen hatte ich mir ursprünglich, zwei bis drei Wochen hier unterwegs zu sein v

Eine Woche Ausgangssperre ist hier jetzt vorüber. Ich erlebe resignierte, aber gelassene Entspanntheit: Insch'Allah. Es ist noch sehr viel ruhiger geworden, ob wegen konsequenter Polizei oder eigener Einsicht, kann ich nicht sagen. Aber es gibt keinerlei Anzeichen für aggressive Stimmung, anders, als ich das von zuhause höre; selbst mein Ladenbesitzer gegenüber kann mehr als notwendig reden und dabei lächeln. Ein Grund mag wohl sein, dass die Tunesier von ihren in Europa lebenden Verwandten - jeder 10. Tunesier ist dort, um Geld zu verdienen - hören, wie angespannt und aufgeregt es dort zugeht und dann zum selben Ergebnis kommen wie ich: es ist hier angenehmer. Am Freitag gab es in Tunesien 282 Corona-Fälle, 3 im Bezirk Nabeul - die Tunesier schaffen das.
Der Gärtner hat mir freudestrahlend eine Schildkröte gezeigt, die er hier im Garten gefunden hat. Die trauen sich wohl jetzt sogar in die Stadt, es ist ja nichts los, also kann selbst eine Schildkröte nun die Straße überqueren. Es gibt kein Leid ohne Freud'. Nur den Katzen geht's wohl schlecht. Normalerweise bekommen sie immer etwas ab von den Restaurantgästen - wohl deshalb sind so viele hier. Nun aber gibt's kein Restaurant und keine Gäste, also kein Futter. Das anfängliche Raufen haben sie ganz eingestellt, jetzt betteln sie mich an. In gehörigem Abstand bekommen sie jetzt mein übriges Brot. Und nun erfahre ich: die Frau des Hoteliers kocht (!) sogar extra für sie, die Bettelei ist wohl eher aus Langeweile.
Am Nebenhaus wird der Verputz ausgebessert und frisch gestrichen, man muss sich ja beschäftigen. Interessante Techniken: gipsen sichtlich ohne Gips, nur ein auch weitgehend zementfreies Sandgemisch, und wo das Gerüst nicht hinreicht, muss man sich eben wagemutig ausstrecken. Mein Fern-sehen.

Ich weiß: es ist immer dasselbe Bild. Aber es ist eben immer dasselbe Bild - am heutigen Sonntag noch etwas trostloser: Dauerregen, 12° am Nachmittag. Nun bin ich hier auf der Größe von zwei Fußballfeldern eingesperrt; Petrus meint offenbar, die 6 qm meiner Kiste - und ohne Internet - könnten mir ja auch reichen. Und auch wenn Diesel hier billig ist: Dauerheizen muss eigentlich auch nicht sein. Aber kein Leid ohne Freud': das Land kann den Regen sicher gut gebrauchen.

Am Montag hat der hiesige Resident Matthias mich besucht um zu schauen, wie es mir geht - der ist wirklich ein ganz Lieber! Er hat über die Firma, die er leitet - Jeans nähen für den europäischen Markt - gesprochen, die derzeit natürlich auch nicht arbeiten darf. Nun befürchtet er - unausgesprochen, aber vielleicht nicht zu unrecht -, dass die tunesische Filiale auf Dauer zugemacht werden könnte, denn die Firma hat andere, größere Filialen in Bangladesch und Vietnam; damit wären die Arbeitsplätze für 150 tunesische Frauen und natürlich auch seiner weg. Derzeit haben die Frauen Zwangsurlaub, ab April bekommen sie vom Staat Kurzarbeitergeld. Viele Tunesier seien sowieso schon stark verschuldet, für viele kleine Selbständige, die es ja zuhauf hier gibt, bahnen sich Katastrophen an.

Das Wetter ist endlich annehmbar, selten Regen und Heizung nur abends. Tagsüber konnte ich einige Stunden auf der Terrasse mit W-LAN arbeiten - und habe mir nebenbei Videos heruntergeladen für die Abendunterhaltung. Auch andere sind gestrandet: ein deutsches Paar auf dem Peloponnes am Strand; sie dürfen dort bleiben, müssen aber das griechische Ausgehverbot beachten. Ein kanadisches Paar ist in Marokko am Strand nahe Agadir, zusammen mit einer sehr großen Zahl anderer Überwinterer; auch in Marokko ist Ausgehverbot, ihr Video vom Supermarkt zeigt aber richtig viel Betrieb - und leere Regale. Im von Touristen viel besuchten Marokko sind die Corona-Zahlen weitaus dramatischer als hier.
Schlimm hat es ein italienisches Paar in Argentinien getroffen: dort ist totales Ausgehverbot, niemand darf sein Haus verlassen; sie dürfen mit ihrem Wohnmobil nirgendwo stehen, auch nicht vor der Polizeiwache, und die Bevölkerung wurde dort aufgerufen, Fremde sofort zu melden; schließlich wurden sie in eine Polizeikaserne eskortiert, wo sie nun sich nun ständig aufhalten müssen. Sorgen macht ihnen natürlich auch die Situation zuhause, den italienischen Rettungsflug konnten sie nicht mehr erreichen.

Auch Dienstag: ordentliches Wetter!
Wie streicht man die Fassade seines 3-stöckigen Hauses ohne Gerüst? Man setzt sich ins Fenster, ein Bein innen, das andere draußen, nimmt eine Farbrolle mit langem Stiel - und nach einigen Stunden ist alles wie neu. In Deutschland kostet das Gerüst oft soviel wie das Streichen.
Videoerkenntnisse: Im Presseclub vom vergangenen Sonntag: keine(r) weiß, was werden wird - Georg Mascolo hat das in seinem Schlusswort sogar zugegeben. Martin Sonneborn aus dem leeren Europaparlament (wurden alle nach Hause geschickt, er blieb): großartig. Am Besten aber Torsten Sträter bei extra 3 über die Hintermänner, welche Corona in die Welt gesetzt haben; einfache Antwort: Hamsterkäufe, Warteschlangen, leere Regale, geschlossene Grenzen - genau: Erich Honecker!
Übrigens: am Nachmittag kam eine Mail der deutschen Botschaft - also nach acht Tagen: die Deutsche Botschaft in Tunis ist bemüht …

Am Mittwoch beherrscht wieder Grau den Himmel. Und die Tastatur meines Laptops spinnt - einige Buchstaben gehen oft gar nicht, andere schreiben zusätzliche Buchstaben - das ist nun wirklich der worst case! Auch mein erfahrener Sohn weiß keinen Rat. Einen neuen Laptop kaufen wäre nicht das Problem - aber es haben ja nur Lebensmittel-Läden geöffnet.
Adidas hat seine Ankündigung, keine Mieten mehr für die Filialen zu bezahlen, zurückgenommen. Vor einigen Tagen schon hieß es, man werden den - wenigen - privaten Vermieter die Miete zahlen, nicht aber den institutionellen, denn das seien meist Versicherungskonzerne. Die Spekulation war: Versicherungskonzerne haben schlechten Leumund, das schlucken die Leute. Aber die sind nicht blöd: die Erlöse der Versicherungen sind ihre Rendite bei der - ohnehin schwindsüchtigen - Lebensversicherung, also auch das trifft die kleinen Leute, der Shitstorm hielt an. Heute nun also die Adidas-Kehrtwende. Was lernen wir: gesellschaftlicher Druck beeindruckt auch große und skrupellose Konzerne. Mehr davon!
Am Nachmittag Regen - und die große Überraschung per Mail der deutschen Botschaft: am Freitag Vormittag geht wieder ein Rettungsflug nach Deutschland. Angesichts der Verlängerung der Kontaktsperre in Deutschland, der - richtigen! - Rigorosität der Italiener und meiner nun höchst eingeschränkten Arbeitsmöglichkeit macht es vielleicht doch Sinn, mitzufliegen?
Ich werde darüber schlafen.

Logbuch Reiselogbuch-2020-1-4

geschrieben am 28., 29. und 31. März sowie 1. April 2020



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