Welt bereisen Das Reiseblog des Ökumenischen Heiligenlexikons

Im Paradies gestrandet

   J. Schäfer          

Sechs Tage bin ich jetzt in der Türkei und nun im Paradies gelandet - oder gestrandet, das ist Auffassungssache.

Montag, 13. / Dienstag, 14. Mai

Nachdem ich letzten Sonntag gerade 'mal bis kurz hinter Ístanbul gekommen war, war die am Montag abgehende Fähre unerreichbar. Also habe ich den Tag auf dem Parkplatz verbracht und die Internet-Verbindung zum Arbeiten benutzt. Am Dienstag ging's dann weiter an Ankara vorbei. Auch hier sieht man wie in Istanbul wieder unzählige und sämtlich neugebaute Wohnblocks in einer Menge, wie das für Deutschland unvorstellbar ist. Es ist höchst beeindruckend, wie die Türkei Wohnraum für die in die Städte drängende Landbevölkerung schafft! Dass sie auch das Bevölkerungswachstum bekämpft, habe ich im schon erwähnten Buch Glückseligkeit von Zülfü Livaneli gelernt: selbst in den hintersten anatolischen Dörfern werden die Frauen informiert und werden Liebesballone verteilt. Die Mullahs sind jedenfalls an dieser Stelle klüger als der Papst! Am Abend erreiche ich einen Rastplatz am Tuz Gölü, dem zweitgrößten See der Türkei mit einer Fläche von 1500 km², fast drei Mal so groß wie der Bodensee. Der See ohne Abfluss ist nur 1,5 Meter tief, hat mehr als 32% Salzgehalt, liefert 90% des in der Türkei verbrauchten Salzes und Produkte für Schönheit und Gesundheit, die am Rastplatz verkauft werden.


Mittwoch, 15. Mai

In Deutschland beschweren sich die Leute gerne über den starken Verkehr und die Staus auf der Autobahn. Ich fahre jetzt seit Tagen auf weitgehend verkehrsfreien Autobahnen, in der Türkei sogar meist dreispurig ausgebaut - aber das ist auch ganz schön anstrengend. Man muss wach bleiben, was nicht einfach ist, wenn nichts los ist und auch die Landschaft wie in Anatolien eintönig. Und man muss doch ständig aufpassen: unterwegs sind fast nur LKW und die überholen sich ohne Blinker, wechseln auch gerne grundlos die Spur; und von hinten kommt zwar selten, aber dann mit durchaus 180 Sachen - erlaubt sind 120 - eines der entsprechenden Neoliberalen-Fahrzeuge deutscher Bauart. Das Wetter ist durchaus wechselhaft: Sonne mit angenehmen Temperaturen, aber auch Gewitter und Wolkenbrüche, sogar einmal Hagel.

Am Abend erreiche ich Tarsus, Paulus' Heimatstadt und finde unversehens den Wegweiser zum Paulus-Brunnen aus dem er getrunken habe und dessen Wasser bis heute heilsame Wirkung zugeschrieben wird. Er liegt in einem großen Park nahe des historischen Stadtzentrums. Ich will nun endlich ans Meer und fahre deshalb noch nach Mersin, um in einem Vorort am Meer zu übernachten. Nach zwei Tagen mit Fahren - eintönig, aber doch anstrengend - gehe ich schon um 22 Uhr schlafen. Nach einer halben Stunde werde ich geweckt: Polizia, Passport! Nach kurzer Kontrolle bekomme ich ihn mit freundlichen Lächeln zurück. Wieder eine halbe Stunde später kommen sie - oder Kollegen - wieder, leuchten in mein Auto und fahren dann weiter. Die Polizei ist hier präsent, an Kreuzungen in den Städten, auch auf der Autobahn.

Donerstag 16. Mai

Am nächsten Morgen kamen zwei Frauen zum nahen Mülleimer, eine ging nach kurzem Zögern auf mich zu und wollte mich zum Frühstück einladen; die Sauberkeit ihrer Kleider ließ keinen Appetit in mir aufkommen. Die Leute sind meist freundlich, aber die offene Herzlichkeit wie bei unserer Türkeireise vor 23 Jahren gibt es so nicht mehr. Unentdeckt bleibt man aber nie: als ich gestern meine Dusche aufgebaut habe in einer weiten Ebene, wo nichts und niemand in der Nähe war, kam nach fünf Minuten ein Mann im Auto, grüßte und beschäftigte sich auf einem nahen Feld; erst als ich ihm demonstriert hatte, was ich vorhabe, ließ er mich allein. Beim Wasserfassen an einem Brunnen in den Bergen war - wieder aus dem Nichts - unvermittelt ein auf einem Esel reitender Hirte zur Stelle und bestätigte - was ich hier in den Bergen sowieso annahm -, dass es Trinkwasser sei.

Den Donnerstag verbrachte ich mit Recherchen fürs Heiligenlexikon. Westlich von Mersin lag Pompeiopolis - das heutige Viranşehir, von dem immerhin noch einige Säulenreste zeugen, dort starb Kalliopios als Märtyrer. In meinem 25 Jahre alten Reiseführer steht, sie finden sich beim Küstenort Mezitli. Auch mein Navi - an dieser Stelle ein Lob für die kostenfreie Android-Applikation Navigator free von mapfactor.com, die mit Open-Street-Map-Karten arbeitet und deshalb die ganze Welt abdeckt - kennt Mezitli; aber Mezitli ist nahtlos mit Mersin zusammengebaut und sieht auch so aus: unzählige neue Hochhäuser, breite Straßen, viel Verkehr. Wie soll man hier einen Ortskern finden, wie unter all der Reklame das vielleicht vorhandene Hinweisschild sehen? Eher zufällig finde ich die Säulen, direkt am Meer.

Zurück in Tarsus entdecke ich am Bahnhof den Zug, mit dem Staatsgründer und Nationalheiliger Kemal Atatürk mehrfach reiste. Dann besuche ich oberhalb der Stadt die - angebliche - Grotte der Sieben Schläfer; diese werden auch im Koran genannt, deshalb ist die Grotte ein Wallfahrtsort für Muslime und auch jetzt, vormittags an einem normalen Wochentag, ist einiges los. Eigentlich gibt es im Islam natürlich keine Heiligenverehrung, aber ...

Natürlich gibt es hier auch eine Moschee mit einem riesigen Turm - fast so hoch wie die Mobilfunk-Antennen auf dem Berg dahinter . Nach Tarsus zurückgekehrt tauche ich ins Leben der Stadt ein, besuche die Reste der römischen Thermen, die noch immer andauernden Ausgrabungen an der hypermodernen Gedenkstätte des angeblichen Wohnhauses von Paulus - daneben steht natürlich auch eine Moschee -, den alten Suq, an dem um die Mittagszeit aber fast nichts los ist, und die griechisch-orthodoxe Paulus-Kirche, offiziell ein Museum, in dem auf Anfrage aber christliche Gottesdienst gefeiert werden können. Das pulsierende Leben in der Stadt lässt sich mit Italien vergleichen, Frauen mit Kopftüchern sind äußerst selten, die jungen Frauen alle westlich attraktiv gekleidet. Später auf dem Campingplatz erzählt der Besitzer, der Islam tue sich schwer: in seinem Dorf besuchen gerade mal 1% der Leute die Moschee, obwohl sie einen attraktiven Imam haben. Das sei nicht zuletzt damit begründet, dass der Gottesdienst in der Moschee ja höchst unattraktiv ist und eigentlich nur aus Reden besteht und dass es eine Gemeindearbeit neben den Gottesdiensten wie in unseren Kirchengemeinden nicht gibt. Anders sei das nur in den noch traditionell geprägten Dörfern Inneranatoliens.

Ich fahre weiter ins antike Mopsuestia, das heutige Yakapınar. Dort führt mich mein Navi etwas in die Irre, so fahre ich vorbei an der Obdachlosen-Siedlung, die es am Rande einer jeden Stadt gibt und die hier wohl entstand, weil ihre Bewohner bei der Ernte helfen. Diese Slums sind klein und zu unterscheiden von den Gecekondu-Siedlungen am Rand der türkischen Städte. Diese bestehen aus kleinen Steinhäusern und beruhen auf der Überlieferung, wonach altes Gewohnheitsrecht besage, dass ein Haus, das über Nacht auf öffentlichem Grund und Boden errichtet worden ist, nicht mehr abgerissen werden dürfe. So werden tatsächlich von aus den Weiten Anatoliens in die Städte Strömenden in einer Nacht die Mauern errichtet. Die Vertreibung durch die Stadtverwaltung misslingt meist nach theatralischen, vom Privatfernsehen dokumentierten Kämpfen, dann wird das Viertel ans Wasser- und Stromnetz angeschlossen. Nach einigen weiteren Jahren kommt ein Bauunternehmer und kauft den Mittellosen das Grundstück ab, um Wohnblocks zu errichten; die seitherigen Gecekondu-Bewohner erhalten im Gegenzug eine Wohnung im neuen Haus für sich und einige weitere zum Vermieten und haben dann den sozialen Aufstieg in den Mittelstand geschafft.

Auf den Feldern ist die Erntearbeit in vollem Gange: Zwiebeln und Kartoffeln. An Arbeitskräften mangelt es nicht.
Abends komme ich in Yumurtalık an, wo nach einer Version ihrer Legende Kosmas und Damian den Martertod fanden, der spätere Bischof und Märtyrer Zenobius und seine Schwester Zenobia, ebenfalls spätere Märtyrerin, gebren wurden und es ein Heiligtum für Thekla von Ikonium gab. Innerhalb der einstmals riesigen Burg aus dem 11. / 12. Jahrhundert ist mein Parkplatz in einem Park und direkt neben einer Moschee innerhalb der Ruinen, ich blicke direkt auf den Hafen. Dessen Kaufladen hat eine Werbeplakat für Rakı, den türkischen Schnaps; hier gibt es also Alkohol, ich kaufe zwei eiskalte Bier - lechz! Bald ruft der Muezzin - direkt neben mit mit unerhörter Lautstärke; hoffentlich tut er das nicht auch Morgen früh, sonst wird die Nacht kurz! Auf den Ruf zum Gebet kommen knapp zehn ältere Männer. Manche treffen erst nach einiger Zeit ein, als der Gottesdienst schon lange begonnen hatte: wie bei den Katholiken in Italien.

Freitag, 17. Mai

Nach der schönen Nacht am Hafen - auch ohne Muezzin wache ich schon um 6 Uhr auf - ist mein Ziel am Freitag Morgen Dörtyol, das ehemalige Issus, in dessen Nähe - wohl - 333 die Keilerei stattfand, bei der Alexander der Große die Perser besiegte, und das frühchristlicher Bischofssitz war. Von den Ausgrabungen ist nichts zu sehen, aber ich entdecke einen Migros - das gönne ich mir einen großen Fruchtyoghurt in Schweizer Qualität für sauteure 1,80€; ein Brotlaib kostet beim Bäcker knappe 30 Cent. Und dann geht's auf nach Iskenderun, ich will heute noch die Fährpassage nach Israel klar machen. Meine Hoffnung, am Hafen eine Agentur zu finden, hat getrogen. Nach einigem Fragen finde ich aber das richtige Hafentor für die Fähre. Auf meine Fragen beratschlagen Zöllner und Hafenleute, 10 Mann, von denen einer ganz gut Englisch kann; das Schiff fahre Sonntag Abend - ich wundere mich, denn ich hatte mit Dienstag gerechnet -; die Tickets gebe es in der Stadt, im Zentrum, ich solle bei der Touristeninformation nachfragen. Die Stadt ist voll, jetzt ist wieder süditalienisches Autofahren, der Kampf um jeden Millimeter, das unerschrockene Ausnützen jeder kleinsten Lücke, der Gebrauch der Hupe und das selbstbewusste Nehmen von Rechten unabhängig von Regeln wichtig. Am schönsten finde ich: an den meisten Ampeln in den Städten wird die Dauer von Rot- und Grünlicht angezeigt. Das ermöglicht, schon 3 bis 4 Sekunden vor Ende der Rotphase loszufahren; tut ein Deutscher, der nichts vom Autofahren versteht, das nicht, wird entsprechend, meist vielstimmig, gehupt. Ob in Italien oder hier: diese Art Auto zu fahren ist ein Testosteronproblem, unter viel Sonne wird es offenbar im Überfluss erzeugt. Auch als ich auf dem Postamt ¼ Meter Abstand zum Vorderman in der Schlange ließ, drängelte sich ein Jüngling dazwischen. Und wer als Fußgänger am Straßenrand wartend nicht mindestens einen Schritt auf der Straße steht, findet sich alsbald in der zweiten Reihe wieder.

Im Zentrum finde ich ein Informationsbüro der Stadtverwaltung: Nein, eine Touristeninformation gebe es nicht, auch von Fähren wisse man nichts, leider könne man nicht helfen, aber ob ich nicht eine Tee wolle ... Schließlich finde ich nach langem Suchen am Rande des Zentrums ein Reisebüro. Sie verkaufen nur Flugreisen, aber wissen, wo es die Fährtickets gibt und weisen den Weg - ans andere Ende des Zentrums. Da ist es, genau gegenüber dem Monumentalgebäude der Stadtverwaltung; das hätte einfach sein können. Dort ist man sehr freundlich mit hervorragendem Englisch: die Fähre fahre diese Woche nicht nach Israel, nur nach Ägypten, in Israel gebe es technische Probleme ... Wann die Fähre wieder Israel anlaufe, könne man nicht sagen ... Großartig!
Im Reiseführer finde ich den Hinweis auf schöne Strände südlich der Stadt, dort werde ich mir einen Campingplatz suchen. Es gibt einen einzigen nach gut 30 km, in Konacık. Als ich eintreffe, werde ich in nahezu akzentfreiem Deutsch begrüßt: der Besitzer ist ein türkischstämmiger Holländer, der sich hier seinen Traum erfüllt hat. 1996 hat er das Gelände gekauft, mit Erde bedecken lassen und Bäume gepflanzt, seit 2003 ist er im Vorruhestand und baut den Platz aus. Sattes, flächendeckendes grünes Gras mit Palmen, Zypressen, Oliven- und anderen Bäumen, dazu ein kleiner Zoo: Hühner, Enten, Frösche im Teich, Ziegen, Max der Haushund, als Höhepunkt ein Pfauenpaar. Warme Dusche, Sitzklo, Internet, kühles Bier. Ich bin im Paradies gelandet als natürlich einziger Gast auf dem Orient Camping.

Es gibt eine Echtzeit-Karte, die alle Schiffe im Mittelmeer verzeichnet: http://www.marinetraffic.com/ais/de. Daher weiß ich: Montag vor acht Tagen fuhr die Fähre, die Nissos Rodos, noch. Jetzt sehe ich dort: sie liegt im Hafen von Haifa, ich werde verfolgen, wie lange noch.

Am Abend erzählt der Besitzer, dass die Türkei in den letzten Jahren das Wirtschaftswunder der 60-er Jahre in Deutschland erlebt hat und dieses sich wohl fortsetze. Objektiv hatte die Türkei in den letzten 10 Jahren ein Wirtschaftswachstum von um die 8%. - das ist eine glatte Verdoppelung der Wirtschaftskraft in diesem Zeitraum. Subjektiv sagt er, den Menschen gehe es immer besser, die Orientierung am Westen habe sich durchgesetzt und die Türkei sei heute, wenn man den Balkan durchquert hat, wieder wie ein Leuchtturm mit (fast) mitteleuropäischem Standard - das kann ich nur bestätigen. Die meisten Menschen besitzen eine Wohnung oder ein Haus - ohne Bankkredit, auch Autos können sich immer mehr Familien leisten. Die Gesundheitsversorgung ist weitgehend kostenfrei. Beim Arztbesuch bekommt man die gewünschten Medikamente verschrieben und muss dann nicht in die Apotheke, sondern bekommt sie wenige Studen später ins Haus geliefert. Wer ein behindertes Kind oder einen hilfebedürftigen Alten in seinem Haushalt aufnimmt, bekommt ein Gehalt von umgerechnet 1200 Lira. Unverheiratete Töchter bekommen die Rente ihres verstorbenen Vaters bis zu ihrer Hochzeit weiter; auch nach einer Scheidung wird diese Rente für die Tochter wieder monatlich ausbezahlt. Der Staat habe Geld, obwohl er z. B. noch nie Steuern bezahlt habe; wenn die Finanzbeamten kämen, erkläre er ihnen, er habe kein Geld und bekomme Aufschub. Das gilt auch für die Steuer auf ein Auto - wenn man es aber irgendwann verkaufen will, wird die Steuer fällig; das erklärt, dass viele Autowracks die Landschaft zieren. Die vielen Türken in Deutschland - oder Holland - lebten dort inzwischen deutlich schlechter als sie es hier tun würden, sagt er, besonders was die Wohnungen betrifft; aber eine Rückkehr trauen sie sich nicht, das wäre ja das Eingeständnis von Scheitern.

Ich bin ja noch nicht endgültig gescheitert mit meinen Plänen - Inschallah. Die nächsten Tage genieße ich erst einmal dieses Paradies ...

Die Tracks:
Tuz Gölü
Mersin
Yumurtalik
Konacık



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